ERINNERUNG

Er, schick angezogen, dynamisch die Pedale seines Fahrrads tretend. Sie, mit Kleid und Brautstrauß auf dem Gepäckträger sitzend, die Beine überschlagen. Und am Gepäckträger angebunden: eine leere Ravioli-Dose, laut über den Asphalt klapperte.

In ihrem Magen ballte sich das pure Glück und sie hatte das Gefühl golden zu strahlen, so hell, dass jeder es sehen musste. Um sie herum begannen Hupen zu ertönen. Fremde Menschen streckten die Köpfe aus den Fenstern und gratulierten den beiden. In diesem Moment fühlte sie sich vollkommen. Nichts schien simpler als glücklich zu sein. Die Sonne im Rücken und die Zukunft erstreckte sich mit ihren unendlichen Möglichkeiten vor ihnen. Sie breitete ihre Arme zur Seite aus und lachte laut und befreit. Aus ganzem Herzen empfundene Freude auf dem Gesicht. Und er lachte mit ihr. Die ganze Welt lachte mit ihnen.

So fuhren sie auf seinem klapprigen Fahrrad zu ihrer gemeinsamen kleinen Dachgeschosswohnung. So perfekt, gerade so viel Platz, dass sie niemals länger als ein paar Sekunden ihre Augen von ihm abwenden musste. Überschwänglich hob er sie vom Gepäckträger und küsste sie so wild und leidenschaftlich, dass es vermutlich der beste Kuss der gesamten Welt gewesen sein musste. Er trug sie hinauf, über die Türschwelle bis in das kleine Bett, das sie ihr Eigen nannten, vorbei an der Nische, in die sie wahrscheinlich in den nächsten ein bis zwei Jahren eine kleine Krippe quetschen könnten.

Noch wollte sie die Augen nicht öffnen. Nur einen kleinen Moment länger wollte sie in dieser Erinnerung schwelgen, die so stark war, dass sie noch ein wenig des Klumpens aus purem Glück im Bauch spüren konnte. Tiefe Falten bildeten sich um ihre Augen, als sich ihre Mundwinkel hoben und sie sich einbildete die Sonne auf ihrem Gesicht zu spüren. Immer weniger wurde das elektrisierende Gefühl der Liebe, das sie eben noch durchflutete hatte. Nur langsam schlug sie die Augen auf. Eine verblichene, ehemals gelbe Wand starrte zurück. Den letzten Funken Liebe verschloss sie sorgsam in ihrem Herzen, dass er ihr ja nie abhandenkam.

Sie bemerkte eine junge Frau neben sich. Möglicherweise hatte sie das Mädchen sogar schon einmal gesehen. Doch ihr wollte beim besten Willen nicht einfallen wo. Sie wandte den Blick wieder ab.

Das Mädchen trat nun näher und las ihr etwas aus einer Zeitung vor. Dabei sollte sie doch eigentlich gar nicht mit Fremden sprechen. Das hatte er ihr immer eingebläut. So wandte sie sich ab. Verwirrt sah sie sich um. Das hier war nicht ihre Wohnung. Und wo war er? Er konnte sie doch nicht einfach hier alleine lassen.

„Mama? Hörst du? Die Beerdigung ist am Samstag. Sogar Onkel Rudi kommt aus Bremen her.“

Doch sie hörte dem Mädchen schon gar nicht mehr zu. Der Moment, in dem sie sich hatte erinnern können, war vorbei und sie starrte wieder auf die verblichene gelbe Tapete.

Von Philine Bünger aus Hildesheim

Prosanova
Schulprogramm

Das PROSANOVA Schulprogramm konnte in diesem Jahr plötzlich nicht durchgeführt werden, wie wir es vorgesehen hatten – alles war anders und auf einmal gab es die Schulen nicht mehr!

Trotzdem hat sich eine Gruppe motivierter Schreiberinnen zusammengefunden: Über Zoom gab es in Workshops Schreibimpulse, Quarantäne-Beobachtung, Erzählübungen, eine gemeinsame Googledoc-Geschichte (live und in verschiedenen Farben) und einiges mehr. Aus den Texten, die im Rahmen der Workshops entstanden

Alle Beiträge

Widerstand/Reibung - Glätte/Reibungslos

von Judy Köhler aus Hildesheim

GLÄTTE/REIBUNG

von Carolin Graw aus Hildesheim

Gedichte (aus der Zeitung gestrichen)

von Sarah Liebich aus Hildesheim

TANZEN MIT SERA

von Janna Möllering aus Hildesheim

ERINNERUNG

von Philine Bünger aus Hildesheim

Zeitlos

von Philine Bünger aus Hildesheim

Gedichte (aus der Zeitung gestrichen)

von Janna Möllering aus Hildesheim

beobachten & schreiben

von Judy Köhler aus Hildesheim

Am Meer

von Sarah Liebich aus Hildesheim

Nach Osten

von Carolin Graw aus Hildesheim

Fachbereich 2 der Stiftung Universität Hildesheim

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